Lieber vor die Wand laufen

Wegschauen ist bequemer? Als Lehrerin macht Sabine Vonwirth ganz andere Erfahrungen. Aber sie weiß auch, dass Hinschauen und Einmischen oft an Grenzen stoßen.

„Geht mich das eigentlich etwas an?

Was ist besser? Soll ich meine Umgebung mit wachsamem Blick betrachten, immer genau hinsehen? Oder doch lieber manches bewusst übersehen und wegschauen?
Nicht aus Desinteresse an meinen SchülerInnen oder weil Wegschauen vielleicht einfacher, bequemer wäre; vielmehr verführen manchmal auch Bedenken und Ängste zu dieser „Lösung“. In der Schule fallen mir immer wieder Kinder durch ihr Verhalten auf. Ich denke dabei nicht an irgendwelche kleinen Streitereien in den Pausen, die sich meist mit wenigen Worten schlichten lassen, sondern an „echte“ Verhaltensauffälligkeiten, deren Gründe nicht sofort auf der Hand liegen. (Womit ich natürlich nicht sagen will, dass ich jedes mögliche Signal erkenne. Oftmals schaue ich im Alltag vielleicht nicht genau genug hin oder übersehe Zeichen, die mich aufhorchen lassen müssten. Zumal es in der Schule genug andere Kinder gibt, die mich fordern und ablenken…)
In dem Moment, in dem ich aufmerksam werde, gehen mir Gedanken und Bedenken durch den Kopf wie: „Geht mich das eigentlich etwas an? Ist das nicht Privatsache? Möchten die Eltern überhaupt, dass ich nach Gründen oder Hintergründen frage?“ Dazu kommt oft die unterschwellige Angst, sich zu viel vorzunehmen oder zu versagen. „Wenn ich mich jetzt einmische, wie weit muss oder kann ich gehen? Wie weit liegt der weitere Verlauf in meiner Verantwortung? Wird nicht in dem Moment, in dem ich mich einschalte, eine Leistung von mir erwartet, die ich vielleicht gar nicht erbringen kann? Überfordere ich mich?“
Die Entscheidung, sich irgendwo einzumischen oder besser nicht, fällt nicht spontan; sie ergibt sich aus einem längeren Prozess. Wo kann ich weitere Informationen über das „auffällige“ Kind bekommen? Machen Kollegen ähnliche Erfahrungen? Dann lohnt es sich, über weitere Schritte nachzudenken. Oder signalisieren sie mir, dass ich bei den betroffenen

Schülern und Eltern keine Unterstützung zu erwarten habe, vielleicht sogar vor die Wand laufe, weil meine Einmischung gar nicht erwünscht ist? Dann macht es wenig Sinn, einen solchen Weg weiterzuverfolgen.

„Wir tun doch alles für ihn“

Im Zweifelsfall entscheide ich mich allerdings trotz ganz unterschiedlicher Erfahrungen lieber fürs Hinschauen. Im Schul-Alltag ist es nämlich schwer möglich, Probleme zu ignorieren – allein schon, weil ich ständig von Neuem damit konfrontiert werde. Also liegt es auch in meinem eigenen Interesse, die Lage – für beide Seiten – zu verbessern. Bewusstes Wegschauen ist eher die Folge vergeblicher Bemühungen.

Ein paar Beispiele: Ziemlich zu Beginn meiner Dienstzeit unterrichtete ich „Max“ (das ist nicht sein wirklicher Name), der sich im Unterricht sehr unkonzentriert und zappelig zeigte und auch im Umgang mit seinen Mitschülern durch unausgeglichenes, aggressives Verhalten auffiel. Besonders montags war er unausstehlich. Nach längerem Überlegen und Zögern suchte ich ein Gespräch mit seiner Mutter, bei dem sich zeigte: Wir sprachen völlig unterschiedliche Sprachen, hatten ganz unterschiedliche Vorstellungen von dem, was Kinder brauchen. Seine Mutter war der festen Überzeugung, dass sie und ihr Mann „alles“ für „Max“ täten. Dazu gehörte, jedes Wochenende zu verreisen und sich in alle möglichen Sportangebote und Aktivitäten zu stürzen – „sonst wird das ja langweilig.“ Ein Elternteil fahre sogar eigens vor, um die (Ferien-)Wohnung und die geplanten Unternehmungen vorzubereiten. Ich setzte mein Verständnis von „gemeinsamer Zeit“ dagegen: Zuwendung, Zuhören, gemeinsames Tun. Wo blieben bei diesen randvoll geplanten Familien-Zeiten das Miteinander, ein gemeinsames Gespräch, Ruhe für sich selbst? Wäre es so schlecht, die Vorbereitungen gemeinsam zu treffen? Wir setzten einfach verschiedene Prioritäten.

Natürlich kann ich nicht in den Tagesablauf einer Familie eingreifen, das entzieht sich meinen Möglichkeiten. Aber ich kann Eltern gelegentlich zum Nachdenken veranlassen, vielleicht sogar zum Umdenken – und das ist schon ein Erfolg.

Das Ende meiner Möglichkeiten

Allerdings werden derartige Bemühungen nicht immer positiv aufgenommen. Vor allem bei erwachsenen Schülern stoßen sie schnell an Grenzen. Zum Beispiel erinnere ich mich an „Moritz“, der provokativ Desinteresse demonstrierte. Zuerst zweifelte ich an mir selbst und suchte Ideen, sein Interesse zu wecken. Doch alle Versuche, ihn verstärkt „mitzunehmen“, verpufften, im Gegenteil: „Moritz“ nutzte die Aufmerksamkeit für seine Person, um sich durch unnötige Kommentare in Szene zu setzen. Also suchte ich das Gespräch mit Kollegen und erfuhr, dass „Moritz“ dieses Verhalten auch anderswo zeigte. Offenbar war nicht ich das eigentliche Problem, sondern „Moritz“ kam mit sich selbst nicht zurecht. Bei einem zufälligen Treffen versuchte ich es mit einem Gespräch außerhalb des Unterrichts. Das ging problemlos, solange wir über „neutrale“ Themen und Allgemeines sprachen. Doch sobald das Gespräch seine Person und Situation berührte, blockte „Moritz“ sofort ab und lehnte auch weitere Gesprächsangebote ab. Meine Überlegung, über die Eltern einen weiteren

Versuch zu starten, ließ ich wieder fallen, als ich hörte, dass „Moritz“ ein sehr gespanntes Verhältnis zu ihnen hatte. Ein solcher Vorstoß hätte also den weiteren Umgang mit ihm wahrscheinlich noch erschwert.

Fazit: Ich kann nicht mehr tun als meine Hilfe anbieten, Gesprächsbereitschaft zeigen und meinen guten Willen, den anderen besser zu verstehen. Ich kann Anregungen geben und Anstöße, manche Dinge einmal in einem anderen Licht zu betrachten. Wenn Schüler und/ oder Eltern dieses Angebot nicht annehmen, muss ich das akzeptieren und versuche, mich von solchen Misserfolgen nicht entmutigen zu lassen. Denn alles Weitere liegt in der Verantwortung der Betroffenen selbst, hier enden meine Möglichkeiten und auch meine Verantwortung.

Sabine Vonwirth